Verortung

Ich verstehe meine Arbeit auch politisch. Das ist sicher erklärungsbedürftig. Wir leben in einer Gesellschaft, die noch immer Schwierigkeiten mit der Vielfalt hat – in meiner Arbeit begegnet mir natürlich vor allem die Vielfalt sexueller Orientierungen, sexueller Bedürfnisse, sexueller Phantasien. Aber auch die Frage, welchem Geschlecht sich Menschen zugehörig fühlen, was eins an Bildern über Männer, Frauen, andere Geschlechter mitbringt – wird Thema in meiner Arbeit und beeinflusst die Prozesse, die meine KlientInnen durchleben.

Wir sind soziale Wesen. Wir sind gekoppelt an die Gesellschaft, wir sind in dieser Gesellschaft sozialisiert worden. Wir alle bringen Muster mit, die uns diese Gesellschaft eingeprägt hat. Dies gilt auch für unsere Sexualität. Mir ist wichtig, mir immer wieder vor Augen zu halten, dass Beratung und Begleitung von Menschen, wie ich sie verstehen möchte, eben auch ein politisches Moment hat. Wir bewegen uns in der Einzelbegleitung nicht im luftleeren Raum.

Dass ich meine Arbeit tun kann, wie ich das eben mache, liegt zum Teil auch an den Privilegien, die ich genieße. Ich bin weiß, eine CIS-Frau, ohne körperliche Einschränkungen mit einer Sozialisation in einem bildungsbürgerlichen, gut situierten Elternhaus. Nicht alle möglichen KlientInnen sind so privilegiert. Dies immer wieder in meiner Arbeit mitzudenken, Räume auch für Menschen zu schaffen, für die Sexualberatung vielleicht nicht so leicht zugänglich ist, ist mir wichtig und Teil meines Selbstverständnisses.

Auch eine feministische Haltung ist mir wichtig. Unter dem immer noch vorherrschenden Patriarchat haben alle Geschlechter zu leiden. Bestimmten Rollenbildern entsprechen zu sollen, bestimmte Aspekte in sich zu fördern und andere zu unterdrücken, bis sie nicht einmal mehr wahrnehmbar sind. Nicht zu weinen oder „doch einmal mehr zu lächeln“, manche Spielsachen zu bevorzugen und andere zu ignorieren, passende Sportarten zu wählen und möglichst den unerreichbaren Bildern aus Modezeitschriften zu entsprechen.

Wo auch immer wir hinsehen, überall finden sich Normen und Aufforderungen, den auch verinnerlichten Rollenbildern nicht zu widersprechen.  Der enorme Druck, der daraus entsteht, macht es immer wieder fast unmöglich, einfach das zu feiern, was man ist und ebenso zu feiern, was andere sind. Vielfältig, unterschiedlich, in einem Weiten Spektrum von Geschlechtsidentitäten, sexuellen Orientierungen und Verkörperungen.

Was ich mir für meine Arbeit wünsche, ist dazu beizutragen, zu begleiten, wenn Menschen zu sich finden und erkunden, was sie selbst wollen, sein wollen, sowieso sind. Menschen zu sehen, die in ihre unterdrückte Kraft zurückkehren, die selbstverständlich ihren Platz einnehmen, fließend und ohne zu kämpfen (ich danke Nhanga C. Grunow, eine meiner Ausbilderinnen, für diesen Satz), das ist, wofür ich brenne und was ich einladen will.

Mit Frauen zu arbeiten, mit Sexualität zu arbeiten, mit der Sexualenergie, die Lebenskraft ist, das hat in meinen Augen durchaus politischen Wert. Menschen, die sich selbst kennen, die ihre Grenzen kommunizieren, die für ihre Bedürfnisse einstehen, werden häufiger nicht akzeptieren, wie viel Ungerechtigkeit es immer noch in unserer Gesellschaft gibt, wie unterschiedlich Cis-Männer und Frauen behandelt werden, wie wenige sichere Räume es gibt.  Die sexnegativen Tendenzen, die immer noch dominieren, brauchen Gegengewicht. Und dieses Gegengewicht heißt auch Aufklärung, Selbsterfahrung, Erschließen von Räumen, Selbstermächtigung.

Diese Selbstermächtigung habe ich über die Beschäftigung mit Sexualität in den letzten Jahren für mich selbst ein Stück mehr erschlossen. Aber wir sind nicht im luftleeren Raum – Selbsterfahrung und auch meine Beratungsarbeit sind für mich politisch.